Horizonte erweitern und beweglicher werden
„Was Fritzchen nicht lernt, lernt Fritz nimmer mehr“. Dieses Dogma hat so manche Generation geprägt. Doch spätestens seit den 1950er Jahren haben Forscher belegen können, wie wandelbar unser Gehirn auch noch im Alter ist. Mit Feldenkrais-Methode und Idiolektik stellen wir zwei scheinbar unverbundene Ansätze dar, die beide mit der Plastizität des Gehirns arbeiten.
Feldenkrais: Lernmethode statt Körpertherapie
Moshé Feldenkrais hat seine Methode in den 1950er entwickelt, als er sich einen Bänderriss im Knie zugezogen hatte und er eine Alternative zur Wahlmöglichkeit „Operation oder instabiles Knie“ suchte. Seine Idee: das Knie ist Teil vielfältiger Funktionen wie Gehen, Stehen oder Balancieren. Weil das so ist, könne das Knie auch nicht isoliert behandelt, sondern immer nur in Bezug auf seine Aufgaben betrachtet werden. Deswegen ging er davon aus, dass man eine Bewegung in möglichst vielen Varianten ausprobieren müsse. 10 Alternativen stellten für ihn das Minimum dar. Nur so könnten dem Körpergedächtnis genügend Handlungsmöglichkeiten bereit gestellt werden.
Nur vordergründig betrachtet ist die Feldenkrais-Methode daher eine Anleitung, mit der sich Bewegungen neu lernen lassen. Denn hinter der Bewegung steckt mehr. Moshé Feldenkrais geht davon aus, dass bestimmte Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten mit bestimmten Denkmustern und Einstellungen verbunden sind. Unser Gehirn bildet so eine Art Landkarte ab, die unsere Haltungen und Bewegungen in neuronalen Verbindungen abbildet.
Der uns heute durchaus geläufige Zusammenhang zwischen Bewegung und Gehirn war in den 1950er Jahren noch eine unerhörte und weitgehend unbestätigte Behauptung. Nur wenige Forscher, wie der Hirnchirurg Wilder Penfield, hatten einen Zusammenhang zwischen Hirnrinden-Aktivität und Bewegung beobachtet. Er hatte daraus gefolgert, dass es bestimmte Hirnareale gäbe, in denen Bewegungsmuster wie auf einer Landkarte festgeschrieben seien.
Feldenkrais ging sogar einen Schritt weiter. Die Landkarte der neuronalen Verbindungen war für ihn nur eine Momentaufnahme. Denn im besten Falle könnten neben den breiten, bekannten Straßen neue Trampelpfade entstehen, die – wenn häufiger genutzt – zu neuen Wegenetzen würden.
Diese Annahme hatte Konsequenzen. Denn jede Bewegungsänderung und das Erlernen von Varianten erlaubten demnach dem System, situationsbedingt so oder auch anders zu reagieren. Die Vielfalt führte nicht zu einer Beliebigkeit, sondern zur Auswahl der bestmöglichen Alternative.
Wenn Du nicht weißt, was Du tust, kannst Du nicht tun, was Du willst
„Bewusstheit durch Bewegung“ ist ein zentraler Teil der Feldenkrais-Methode. Dabei geht es im Wesentlichen darum, dass die Wahrnehmung des Feldenkrais-Schülers geschult wird. Unterscheidungen zu erkennen ist dabei der Schlüssel zum Lernen. Bewusstheit umfasst nach Feldenkrais Gefühle, Absichten, Sinnesempfindungen und Bewegungen.
Anna Karin Engels, die die Feldenkrais-Methode unterrichtet, erläutert den ungewöhnlichen Begriff so: „Feldenkrais unterscheidet hier Bewusstheit und Bewusstsein. Bewusstsein ist demnach die generelle Fähigkeit zu reflektieren. Bewusstheit dagegen bedeutet, zu wissen, was man tut und wie man es tut, um ein gesetztes Ziel zu erreichen. Bewusstheit ist also gerichtete Aufmerksamkeit, man kann es auch Achtsamkeit nennen.“
Ob wir über eine Straße gehen, uns auf einen Stuhl setzen, zu einem Glas greifen - hinter jeder Bewegung steht eine Absicht. Die Bewegung ist also Ausdruck einer Absicht. In der Feldenkrais-Methode wird eine Bewegung oder Handlung danach beurteilt, ob das zu erreichende Ziel bestmöglich erreicht wird. Ideale Handlungen sind bewusste Handlungen und dadurch gekennzeichnet, dass sie sich mühelos anfühlen. Sichtbare Mühe und Anstrengung sind ein Hinweis darauf, dass andere als für die Handlung nützlichen Bewegungen ausgeführt werden.
Widerstandslosigkeit ist ein weiteres Merkmal, das sich einstellt, wenn eine Handlung bewusst ausgeführt und nicht widersprechende Motivationen beteiligt sind.
Umkehrbarkeit ist ein drittes Merkmal bewusster Bewegung. Damit gemeint ist die Fähigkeit, eine Bewegung bewusst anzuhalten, sie umzukehren, die Richtung zu ändern oder sie fallen zu lassen. Diese Umkehrbarkeit ist nur möglich, wenn wir eine sehr feine Kontrolle über Erregung und Hemmung zwischen dem sympathischen und parasympathischen System erlernt haben.
Atmung ist schließlich das vierte Merkmal, das unser Handeln bestimmt. Denn zwischen Atmen und Bewegung besteht ein enges Wechselverhältnis. So manifestiert sich beispielsweise mittels Atmen eine bestimmte Bewegungshaltung allein durch die Atemhilfsmuskulatur im Schultergürtel und Lendenbereich.
Schläft ein Lied in allen Dingen – Idiolektik kurz gefasst
Eichendorffs Gedicht „Schläft ein Lied in allen Dingen,/ die da träumen fort und fort,/ und die Welt hebt an zu singen,/ triffst du nur das Zauberwort“ enthält den Kern der idiolektischen Methode. Durch das offene und vorurteilslos Fragen und das Aufgreifen von Schlüsselwörtern des Gegenübers werden diese zu Zauberwörtern, weil sie den Zugang zu seinem Innersten öffnen. Während bei der Feldenkrais-Methode Alternativen zu habituellen Bewegungsmustern exploriert und gelernt werden, die neben den gewohnten Bewegungsmustern mehr Handlungsmöglichkeiten zu Verhaltensänderungen zu eröffnen, sucht die Idiolektik den Weg über Sprachmuster, die besondere Eigensprache des Gegenübers.
David Jonas hat diese therapeutische Methode in den 1970er Jahren entwickelt, die anerkennt, dass jede Person eine Eigensprache besitzt. Das meint phonetische, grammatikalische, nonverbale Ausdrücke und die Wortwahl. Psychotherapeut Tilman Rentel, der mit Anna Karin Engels Seminare zu Feldenkrais und Idiolektik anbietet: „Die Eigensprache eines Menschen, mit der er seine Welt beschreibt, wird geprägt durch seine individuellen Lebenserfahrungen mit all ihren einzigartigen Sinneseindrücken, Bewegungen, Gefühlen, Bildern, Szenen und Gedanken. Das heißt eben auch, dass jedes Verhalten eines Menschen zu bestimmten Zeiten sinnvoll war, weil sie für sein Überleben notwendig war.“
Doch eingefahrene Sprach- und Denkmuster „Man muss doch gehorchen“ oder „Das ist nun mal so“ können ebenso wie lang eingeübte Bewegungsmuster zu Einschränkungen und Blockaden führen, wenn sich der Situationskontext längst verändert hat.
Die Idiolektik findet in verschiedenen Bereichen Anwendung. In Kommunikationstrainings nutzen wir die Methode, um zunächst einmal eigene und fremde Sprachmuster zu erkennen. Denn im Alltag sind Missverständnisse, Unklarheiten, Projektionen oder Konflikte an der Tagesordnung. Die Hauptgründe: Fehlinterpretation von Gesagtem oder Fokussierung des Gesagten auf die eigene Person. Die idiolektische Gesprächsführung vermittelt ein vertieftes Verständnis für Hintergründe und Wirkungen der Gesprächsführung und zeigt Möglichkeiten auf, besser mit den erwähnten Schwierigkeiten umzugehen.
In der Psychotherapie wird die wertschätzende und behutsame Gesprächsführung genutzt, um anhand von im Gespräch gefallenen Schlüsselwörtern zunächst eine Selbstreflektion des Klienten in Gang zu bringen. Ziel ist es, die Ressourcen des Klienten zu aktivieren, um Wege für eine mögliche Neubetrachtung eines Sachverhalts zu gewinnen.
Was verbindet Feldenkrais und Idiolektik
Feldenkrais und Idiolektik sind nicht-normative Ansätze, die beide davon ausgehen, dass unsere neuronalen Muster und Prägungen veränderbar ist. Hirnforscher sprechen hier von der Plastizität des Gehirns. Feldenkrais sucht den Weg hauptsächlich über Bewegungen, während die Idiolektik über die Sprache versucht, Möglichkeiten oder Handlungsvielfalt herzustellen. Beide Ansätze gehen davon aus, dass der Körper Selbstheilungskräfte aktivieren kann und dadurch Veränderungen ermöglicht werden.
Die Idiolektik kann auch zielführend eingesetzt werden, um bei psychosomatischen Erkrankungen zum Beispiel über die Sprache der Organe Hintergründe zu vermitteln. Denn in den vielen volksmündlichen Redeweisen wie „das hat mir einen Stich ins Herz gegeben“ oder „das ist mir auf den Magen geschlagen“ offenbaren sich leib-seelische Zusammenhänge. Hunderte von Redewendungen und die Art, wie sie verwendet werden, können ein sehr klares Licht auf die innerpsychischen und zwischenmenschlichen Konstellationen geben. Dabei hat jeder Mensch seine eigenen typischen Redewendungen, die sich in verschiedene Sprachmuster teilen lassen. Die Augensprache („Ich blicke nicht durch“), die Ohrensprache („Ich kann das nicht mehr hören“), die Rückensprache („Das belastet mich sehr“) und viele andere Ausformungen können die Schwachstellen des Körpers offenbaren.
Die Sprache der Organe – die Körpersprache also – hat seinen Ursprung in einer Zeit, als wir Menschen noch Jäger und Sammler waren. Körperliche Beanspruchbarkeit und körperliche Reaktion waren überlebenswichtig. Und da sind wir trotz Evolution immer noch Urmensch geblieben, wo wir Beanspruchungen auf körperlicher Ebene erfassen und entsprechend archaisch mit körperlichen Reaktionen antworten.
Bilder im Kopf
Moshé Feldenkrais geht davon aus, dass Menschen, die für das Lösen einer Aufgabe zwischen Handlungsalternativen entscheiden müssen, im Organismus zunächst einmal ein inneres Körperbild erstellen und dann danach handeln. Und Hirnforscher wissen mittlerweile, dass das Körpermodell nicht nur der Planung von Bewegung und Handlung dient, sondern auch den Wahrnehmungsprozess steuert.
Um Bilder geht es auch bei der Idiolektik. Über Bilder können beim Gegenüber verschiedene Ebenen angesprochen werden: Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Wünsche, Träume oder Körperzustände. Wenn also in der Idiolektik insbesondere die Bilderwelt des Gegenüber angesprochen wird, geht es wie bei Feldenkrais darum, den jeweiligen Wahrnehmungsprozess transparent zu machen.
Anna Karin Engels und Tilman Rentel sind sich über die Ähnlichkeit der Erkenntnisse und Ausgangsideen beider Methoden einig:
- unser Gehirn ist lebenslang veränderbar
- stabile Verbindungen entstehen durch Wiederholung
- nicht genutzte Verbindungen werden geschwächt oder sterben ab
- Störungen können sicht- und behandelbar gemacht werden
- die „innere Weisheit“ (Selbstheilungskräfte/Selbstregulation) werden aktiviert
„Weder korrigiere, noch heile oder unterrichte ich. Ich schaffe nur die notwendigen Bedingungen, in denen jemand lernen kann“, sagt Moshé Feldenkrais. David Jonas als Idiolektiker könnte das unterschreiben.
LIW-Seminare, die Feldenkrais und Idiolektik für die Berufswelt nutzbar machen