Soziokratie: gleichwertig entscheiden – effektiv führen
Entscheidungen gleichwertig auf Augenhöhe treffen – alle im Team aktiv einbinden – und dennoch effektiv voran kommen. Klingt wie die Quadratur des Kreises? Soziokratie macht es möglich.
Selbstorganisation und partizipative Führung sind notwendige und immer mehr genutzte Werkzeuge der Neuen Arbeit. Doch wie können Organisationen so agieren, dass alle Beteiligten ihr Potential und ihre Kompetenz effektiv zur Erreichung der Organisationsziele einbringen? Wie können Teams Entscheidungen schnell und auf Augenhöhe treffen, dabei die Stimmen aller Beteiligten einbinden und Beschlüsse wirksam und motiviert umsetzen? Soziokratie weist einen Weg, wie diejenigen, die zusammen arbeiten, maximalen Entscheidungsfreiraum bekommen. Dabei verbindet sie zwei zentrale Werte: die Gleichwertigkeit der Mitarbeiter*innen in Entscheidungen und Effektivität beziehungsweise Wirksamkeit auf strategischer und operativer Ebene.
Als Organisationsmodell bietet Soziokratie eine pragmatische Alternative zu gewohnten Organisationsmustern (beispielsweise top-down oder basisdemokratisch) und gibt unter anderem Antwort auf folgende Fragen:
- Welche Elemente sind maßgeblich für den Aufbau einer soziokratischen Organisation – und wie stehen diese miteinander in Beziehung?
- Wer ist entscheidungsbefugt (Gremien / Rollen)?
- Was darf entschieden werden (Kompetenzbereich / Domäne)?
- Wie wird entschieden (Entscheidungsverfahren / per Konsent)?
- Welchen Gütekriterien soll eine Entscheidung genügen (Fokus / Vision-Mission-Ziel)?
- Welche Werte sollen sich explizit in der Organisationsstruktur widerspiegeln?
Beispiele aus Wirtschaft, Bildung und NGOs zeigen, dass soziokratische Organisationsmodelle sektorübergreifend erfolgreich sind, so lange die beiden elementaren Prinzipien „Effektivität“ und „Gleichwertigkeit“ den strategischen und operativen Zielen einer Organisation ebenbürtig bleiben.
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Wo liegt der Unterschied zwischen Demokratie und Soziokratie?
In der Demokratie bestimmt die Mehrheit über Minderheiten, was dazu führt, dass die Belange Einzelner oder kleiner Gruppen häufig unbeachtet bleiben. In der Soziokratie wird eine Entscheidung dann getroffen, wenn niemand der Anwesenden einen schwerwiegenden und begründeten Einwand erhebt. Damit die Stimme der Einzelnen nicht als Veto missbraucht wird, muss der Einwand mit Bezug auf zuvor definierte gemeinsame Ziele begründet werden. Damit versucht die Soziokratie die Interessen der Gruppe mit den Interessen Einzelner oder Minderheiten besser auszubalancieren, als dies in der Demokratie gelingt.
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Konsent – Effektivität, Gleichwertigkeit und Zufriedenheit in Entscheidungen verbinden
Soziokratisch entscheiden heißt im Konsent entscheiden. Achtung: Konsent ist nicht Konsens! Konsens braucht die Zustimmung aller. Einzelne können per Veto eine Entscheidung zu blockieren. Konsent hingegen fragt nach Einwänden. Alle Stimmen sind gleichwertig. Einwände werden nicht anhand persönlicher Präferenzen sondern bezogen auf zuvor abgestimmte gemeinsame Ziele begründet. Konsent bedeutet somit, dass die Mitglieder des Teams hinreichend Gewissheit haben, dass der Vorschlag das Team mit vertretbaren Mitteln zum Ziel bringt.
Um sinnvoll per Konsent abzustimmen durchläuft das Team einen klaren, die Entscheidung vorbereitenden Prozess aus drei Phasen:
(1) Problem verstehen,
(2) Perspektiven austauschen und Lösungsansätze generieren sowie
(3) Entscheidung treffen.
Beispiel Stellenausschreibung
Vertreter*innen der betroffenen Abteilung beraten mit Vertreter*innen der Personalabteilung und des Betriebsrates. Ziel ist die Formulierung einer attraktiven Anzeige für die vakante Position. Zunächst trägt die Gruppe alle relevanten Informationen zusammen (Arbeitsbereich, Aufgaben, geforderte Qualifikationen, Budget, rechtliche Vorgaben etc.).
Damit alle Anwesenden gehört werden, sprechen sie in Runden. Eine Person nach der anderen kommt zu Wort. Niemand wird ausgelassen, alle kommen dran. Da jede*r sicher ist, gehört zu werden, können alle einfacher zuhören, da sie nicht um ihr Wort kämpfen müssen.
Erst nach der Informationsphase beginnt der Austausch von Perspektiven und Lösungsansätzen. Die Gruppenmitglieder bringen Argumente und Bedenken ein. Bedenken sind wichtige Hinweise auf noch nicht erfüllte Anliegen. Die Gruppe ist gemeinsam zuständig für Erfolg. Daher entwickeln alle Mitglieder mitverantwortlich Vorschläge zur Auflösung der Bedenken. Auch in dieser Phase sprechen die Anwesenden in der Reihenfolge der Runde: alle werden gehört und jede*r kann aufmerksam zuhören. Evtl. prüft die Gruppe in einer weiteren Runde Argumente und Bedenken.
Zuletzt folgt die Beschlussphase. Ggf. mit Unterstützung der Gruppe formuliert die Moderation einen Vorschlag für den Beschluss. Er umfasst jene Punkte, die Bestandteil der Ausschreibung werden sollen. Die Moderation bittet alle Anwesenden um Konsent. Die Gruppenmitglieder geben Konsent, wenn sie glauben, dass der Beschlussvorschlag gut genug ist, um ausprobiert zu werden: Erreichen wir mit diesem Vorschlag mit vertretbaren Mitteln (Zeit, Kosten etc.) unser Ziel?
Nicht perfekt, aber auch kein fauler Kompromiss
Wahrscheinlich erreicht keine*r der Anwesenden ihre Präferenz. Der Beschluss holt jedoch alle in ihrem Toleranzbereich ab. Daher können sie guten Willens und Gewissens mitgehen. Da alle über eine gleichwertige Stimme verfügen, kann niemand eine andere Person überstimmen. Gesprächsrunden sorgen dafür, dass alle aktiv eingebunden sind und transparente Entscheidungen. Nicht Perfektion, sondern ein auf das Ziel bezogener und umsetzbarer Beschluss ist das Maß für Erfolg. Bei schwerwiegenden Einwänden trägt die Gruppe gemeinsam Verantwortung für deren Auflösung.
Organisationsprinzipien und Kernelemente soziokratischer Organisationen
Gleichwertigkeit und Effektivität durch Selbstorganisation und partizipative Führung
Soziokratie realisiert Gleichwertigkeit gemeinsam mit Effektivität durch intelligente Selbstorganisation. Gleichwertigkeit bedeutet partizipative Führung: diejenigen, die von Entscheidungen betroffen sind oder diese umsetzen, steuern den Entscheidungsprozess aktiv und mit gleichem Stimmgewicht. Intelligente Selbstorganisation sorgt für die Kooperation der richtigen Partner*innen und gewährleistet Transparenz über Zuständigkeiten sowie effiziente Informationsflüsse. Feedback legt die Basis für eine dynamische Weiterentwicklung der Organisation, ihrer Teams und Mitarbeiter*innen. Damit entsteht Effektivität bzw. Wirksamkeit.
Der Kreis – der Kern einer soziokratischen Organisation
Das Kreisprinzip erstreckt sich über zwei Dimensionen: (1) das Sprechen in Runden während eines Entscheidungsprozesses und (2) die Gliederung einer soziokratischen Organisationen in Kreise. Im Unterschied zu Abteilungen oder Teams „gewöhnlicher“ Organisationen sind soziokratische Kreise teilautonom. Ein Kreis handelt die Grenzen dessen was er tut (Domäne) mit seinem Mutterkreis aus. Wie er ans Ziel kommt liegt vollständig im eigenen Ermessen. Jeder Kreis gestaltet seine Prozesse selbst. Inwiefern er sich zwecks Synergieeffekten mit anderen Kreisen abstimmt, entscheiden die Kreismitglieder im Konsent. Ebenso wählt ein Kreis seine Mitglieder. Das bedeutet beispielsweise, dass kein übergeordneter Kreis eine*n Mitarbeiter*in gegen den Willen des Kreises dorthin versetzen oder von ihm abziehen kann.
Kreise entstehen durch „Zellteilung“. Per Mutter-Tochter-Verbindung ist jeder Kreis mit seinem funktional übergeordneten Kreis verknüpft – und von dort mit Schwesterkreisen. Kreise bilden Tochterkreise, wenn sie beschließen, die eigenen Zuständigkeiten (Domäne) arbeitsteilig in separaten Untereinheiten zu erledigen. Dazu muss der Kreis keine übergeordnete Einheit um Erlaubnis bitten, so lange er gemeinsam mit seinen Tochterkreisen weiterhin die ursprüngliche Domäne ausfüllt.
Ein Beispiel für Teilautonomie:
Der Arbeitskreis „Communities, Communication und Support“ (AK CCS) im Soziokratiezentrum Deutschland verantwortet unter anderem die Konzeption und Wartung der Vereinswebseite. Um der neuen Vereinsausrichtung zu genügen, beschloss der AK CCS im Sommer 2019 eine neue Webseite zu erstellen. Die Entscheidung liegt innerhalb seiner Domäne und so traf sie der AK CCS eigenständig inklusive Auswahl der technischen Plattform, Struktur, Inhalte, Auftragsvergabe etc. (Für eine breitere Informationsbasis und Akzeptanz der neuen Webpräsenz hat der AK CCS – freiwillig – Mitglieder anderer Kreise zur Mitarbeit eingeladen.) Zugleich gab es Rahmenbedingungen, die die Domäne des AK CCS begrenzen. Beispielsweise verfügte der AK CCS über ein vom Allgemeinen Kreis (Mutterkreis) definiertes maximales Finanzbudget. Ebenso musste die inhaltliche Ausrichtung der Webseite die Vision, Mission und Ziel des Vereins widerspiegeln.
Ein Kreis trifft Entscheidungen, die die Organisation substanziell betreffen, ohne „oben“ nachzufragen. Ausschlaggebend ist, dass die Entscheidung innerhalb seiner Domäne liegt und mit der Entscheidung weiterhin das übergeordnete gemeinsame Ziel des Kreises und der Organisation erreicht wird. Die Ausgestaltung der Kreisdomänen muss daher mit der klaren Intention geschehen, dass Strukturen zu Selbstorganisation nicht nur den Prinzipien „Gleichwertigkeit“ und „Effektivität“, sondern auch den übergeordneten Interessen der Organisation genügen.
Doppelte Kopplung: klare Führung, Effektivität und transparente Informationsflüsse
Kreise operieren auf unterschiedlichen funktionalen Ebenen. Im Zentrum der Organisation angesiedelte Kreise übernehmen eher strategische Aufgaben. In der Peripherie angesiedelte Kreise erfüllen eher operative Aufgaben. Die Verknüpfung zwischen den Ebenen erfolgt durch zwei kreisbezogene Rollen: „Kreisleitung“ und „Delegierte“. Beide Rollen zusammen stehen für das Prinzip der „Doppelten Kopplung“.
Leitung
Beschließt ein Kreis die Gründung eines Tochterkreises, wählt er – per Konsent – aus den eigenen Reihen eine Person als Leitung des Tochterkreises. Die Leitung bleibt vollwertiges Mitglied im Mutterkreis. Sie gehört nun beiden Kreisen an und hat in beiden gleichwertiges Stimmrecht mit den jeweils anderen Mitgliedern.
Die Leitung sorgt für den Informationsfluss vom Mutter- zum Tochterkreis (Zentrum – Peripherie) und stellt unter anderem sicher, dass der Tochterkreis weiß, welche Aufträge der Mutterkreis in seiner Domäne sieht. Darüber hinaus ist sie die Schnittstelle aller kreisinternen administrativen Angelegenheiten.
Delegierung
Damit Informationen auch von der Peripherie zum Zentrum der Organisation fließen, wählt der Tochterkreis aus den eigenen Reihen eine Person als Delegierte*n in den Mutterkreis. Ebenso wie die Leitung, sind Delegierte Mitglied sowohl im Tochter- als auch im Mutterkreis vollwertig Mitglied und besitzen gleichwertiges Stimmrecht. Zentrale Aufgabe der Delegierten ist es, im Mutterkreis über Bedarfe des Tochterkreises zu informieren, Entscheidungen zu initiieren, die die Arbeitsfähigkeit des Tochterkreises gewährleisten (Domäne ausfüllen) und gegebenenfalls Konsent zu vorzuenthalten, wenn Entscheidungen des Mutterkreises die Arbeitsfähigkeit (beispielsweise aufgrund zu geringer Ressourcen) des Tochterkreises unvertretbar beeinträchtigen.
Ausblick
Soziokratie realisiert Gleichwertigkeit und Effektivität über eine Vielzahl struktureller Elemente: die Entscheidung im Konsent, teilautonome Kreise, Verknüpfung über doppelte Kopplung. Die Entscheidung im Konsent bietet einen leicht realisierbaren Schritt hin zu dieser (r)evolultionären Form partizipativer Führung. Weitergehende Veränderungen, wie die Transformation abhängiger Abteilungen hin zu teilautonomen Kreisen, gelingen in der Regel nur im Rahmen eines wohldosierten Change-Managements.
Am Ende allen soziokratischen Agierens steht das Ziel, alle Beteiligten gleichwertig in substanzielle Entscheidungen einzubeziehen: für mehr Effektivität – und für mehr menschliches Maß in der Steuerung von Organisationen.
Autor: Nils Zierath