Achtsam sein: Eine alte und bedeutungsvolle Ressource nutzen
Die erste gute Nachricht ist – Achtsamkeit hat eine tief gehende Wirkung. Die zweite gute Nachricht ist – wir alle besitzen die Qualität der Achtsamkeit in uns. Wir dürfen uns dessen wieder bewusst werden. Und die dritte gute Nachricht – wir brauchen dafür keine zusätzliche Zeit organisieren oder unser ganzes Leben ändern. Wie müssen wir uns das vorstellen?
Stellen wir uns folgende Situation vor: Eine Frau, nennen wir sie Julia, bekommt von ihrem Freund Marc die Schlüssel für eine private Hütte auf einem Berg in den Alpen mit dem Hinweis, Julia bräuchte dringend eine Pause. Sie solle abschalten, müsse unbedingt auf andere Gedanken kommen; er mache sich Sorgen. Nach anfänglichem Zögern nimmt Julia den Rat an, packt fest entschlossen ihren Rucksack und begibt sich auf die Reise.
Sie war schon lange nicht mehr in den Bergen. Eine unerwartete Sehnsucht macht sich plötzlich breit. Ist es die Hütte? Die Zeit für sich?
Die Route scheint einfach zu sein, die Gegend ist ihr nicht fremd. Anfangs ist der Weg asphaltiert, dann geht er in festen sandigen Boden über, mit Wurzeln durchsetzt. Links und rechts säumen alte Kiefern den Weg. Keine weiteren Wanderer sind zu sehen. Bereits nach kurzer Zeit kommen Gedanken, mit jedem Schritt taucht sie tiefer ein in diesen Nebel aus „Was wäre wenn …“, „Wieso habe ich dieses und jenes übersehen …“, „Warum streiten wir nur noch daheim …“. „Alles ist gerade zu viel“. Dass sich der Weg im Außen aufgelöst zu haben scheint, bemerkt Julia erst, als sie der Körper zu einer Pause zwingt. „Habe ich etwas übersehen? Bin ich vom Weg abgekommen?“ Julia zieht die Karte aus dem Rucksack, setzt sich, trinkt etwas und geht, nach einem kurzen Blick auf die Karte und einem sicheren Gefühl, zügig weiter.
Der Untergrund ist teilweise sehr brüchig. Sie ist gezwungen, langsamer und vorsichtiger zu gehen. Das gefällt ihr gerade überhaupt nicht. Das Atmen wird schwerer, der Puls ist bei jedem Schritt zu spüren. Sie muss sich wieder setzen. Widerstände gegen die Tour zeigen sich, und Zweifel. „Warum habe ich mich nur darauf eingelassen. Sollte ich umdrehen? Ich könnte sagen, das Wetter wurde schlecht …“. Aber Julia bleibt sitzen, schaut sich um, bemerkt den Wind im Gesicht und die karge Landschaft. Ein Greifvogel dreht über ihrem Kopf am Himmel Kreise, als wolle er sich gleich auf sie stürzen. Das alles beeindruckt sie wenig und sie setzt den Weg fort. Der Ehrgeiz, es zu schaffen, treibt sie wieder an.
Es wird beschwerlicher. Weitergehen. Einfach weitergehen.
Sie spürt Ihren Herzschlag bis zum Hals. Jeder Schritt erzeugt ein Geräusch, jedes Geräusch hallt in ihr nach. Den Blick auf den Boden gerichtet, erklimmt sie tief atmend den Berg. Ein eigener Rhythmus entsteht. Das anfängliche Getriebensein beruhigt sich von allein. Sie muss sich anstrengen, nachzudenken. Gleichzeitig breitet sich Leichtigkeit aus. Und Ruhe.
Trotz Anstrengung ist der Atem tief und ruhig. Sie nimmt Gerüche wahr, von holzig bis süß. „Sind hier andere Pflanzen?“ Jetzt bemerkt sie, wie klar die Luft ist und sie bedauert, so lange nichts für sich getan zu haben.
Dann – wie aus dem Nichts – eröffnet sich ihr ein malerischer Anblick. Sanft geschwungene Linien entfernter Bergketten spielen miteinander. Noch weiter gibt es mit Schnee bedeckte Spitzen. Ein Traum. Freude pur im Herzen. Ohne Worte. Nur Fühlen. Fühlen einer Schönheit, die da ist. Tränen laufen übers Gesicht, die Lippen beben …, sie weiß gerade nicht, wohin mit dem Glück.
Alle Mühen des Aufstieges sind vergessen. Wie kann Natur so schön sein. Die Knie werden weich, Julia muss mich setzen und sich diesem Anblick hingeben. Diese pure Verbindung mit der Natur hat alles Grübeln, alles Nachdenken über Situationen und Probleme aufgelöst. Es ist nicht mehr wichtig.
Was hat diese Geschichte mit Achtsamkeit zu tun?
Achtsam sein heißt, sich in jedem Moment bewusst zu sein. Gut für sich zu sorgen, jetzt –und nicht irgendwann. Bewusst wahrzunehmen, in welcher Situation ich mich gerade befinde. Sie so anzunehmen wie sie ist, ohne ständig mit Lösungen, mit dem Andershabenwollen, beschäftigt zu sein. Meine inneren Antreiber zu bemerken und mich zu fragen, wer sie antreibt. Mich frei zu machen von Konzepten und Ideen über das Leben und Situationen, sondern immer wieder diesen einen Schritt zu setzen. Ob auf Asphalt gehend, auf sandigem Boden oder Moos; ob mit Plan im Kopf oder ohne. Achtsam sein bedeutet, wieder im Kontakt zu sein mit mir, verbunden mit meinem Herzen, meinem Körper und meinem Atem.
Mit Neugierde, Freundlichkeit und Vertrauen. Vertrauen auf das Leben und auf eine innere Weisheit, die mich im Herzen spüren lässt, richtig zu sein. Mit mir und an jedem Ort.
Zu erkennen, dass die Angst, etwas zu verpassen, mich beeilen zu müssen, wem auch immer etwas beweisen zu müssen, haltlos ist. Unbegründet. Sich einfach bewusst sein zu dürfen, dass Achtsamkeit eine innere Haltung ist, die ich in meinem Lebensrucksack schon immer bei mir habe.
Ist das im Alltag möglich?
Ja, in jedem Moment bewusst zu sein, ist eine Herausforderung. Es wird sie immer geben. Ob ich Dinge, Situationen, Menschen mag oder nicht.
Widerstände lassen mich vielleicht erkennen, dass ich Schwierigkeiten akzeptieren kann, statt immer wieder dagegen zu sein.
Mit dem Leben zu sein lässt mich freier werden, weil der innere Abstand zu den täglichen Herausforderungen und äußeren Reizen größer wird. Im Loslassen ergibt sich wiederum Raum für neue Perspektiven und Möglichkeiten.
Achtsam zu sein heißt nicht, dass wir dazu auf hohe Berge klettern müssen. Nur manchmal hilft Abstand, um einen anderen Blick auf das Leben zu bekommen. Grenzerfahrungen, wie beim Bergsteigen, können an unseren festgefahrenen Strukturen reiben. Durch diese Reibung können wir wieder in Kontakt mit uns kommen, uns spüren. In Kontakt kommen, mit etwas, was schon immer da war und ist. Wir müssen es nicht suchen.
Gibt es Nebenwirkungen?
Ja, mehr Zufriedenheit, Glück und Freude. Wer sich jedoch erhofft, durch Achtsamkeit noch leistungsfähiger zu werden, der wird irgendwann wieder im Hamsterrad sitzen und verpasst das Leben.
Das am meisten mit wissenschaftlichen Studien belegte Programm ist MBSR (engl.: „Mindfulness Based Stress Reduction“ – übersetzt: „Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“). Es wurde Ende der 70er Jahre vom Mediziner Jon Kabat Zinn entwickelt. Ziel ist es, in die Eigenverantwortung zu kommen, das Steuer für das eigene Leben wieder in die Hand zu nehmen, selbstbestimmt Gesundheitsvorsorge zu betreiben.
Nach einer gefühlten Unendlichkeit geht Julia weiter. Jeder Schritt ist Dankbarkeit und tiefer innerer Frieden. Vertrauen, dass es immer weitergeht, nur mit mehr Klarheit und anderem Blick.
Bildquelle: Beatrice Kahnt
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